Kommt der nächste Lockdown?
Warum unter den Corona-Toten in Großbritannien 40 Prozent doppelt geimpft waren.
Angesichts der sich ausbreitenden Delta-Variante sind viele alarmiert und schauen nach Großbritannien. Dort waren 40 Prozent der Corona-Todesfälle doppelt geimpft. Für viele ein Grund zur Besorgnis, für andere eine logische Konsequenz der Impfkampagne.
Die hochansteckende Delta-Variante gilt als Treiber der vierten Corona-Welle, weshalb sich schnell die Frage nach der Wirksamkeit der Impfstoffe stellt. Darum sorgte auch die Nachricht, dass in Großbritannien 40 Prozent aller neuen Corona-Toten doppelt geimpft waren, für Aufsehen.
Zumal auch die Zahl der Neuinfektionen zuletzt um fast 75 Prozent zunahm, die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 198,7 (Stand: 2. Juli). Ärzte mahnen bereits, die geplanten Lockerungen zurückzunehmen und stattdessen weiter auf Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen zu setzen. Ab dem 19. Juli sollen Clubs wieder öffnen dürfen, bei Halbfinale und Finale der Fußball-EM sind nächste Woche 60.000 Fans im Wembley-Stadion zugelassen.
Experten wie der Mannheimer Statistik-Professor Christoph Rothe sehen in der Zahl der doppelt Geimpften unter den Toten (Stand 3. Juli: 18 pro Tag) jedoch eine „Erfolgsgeschichte“ – und zwar der Impfkampagne in Großbritannien. Aktuell hat nach Angaben der britischen Gesundheitsbehörden. 85,7 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung die Erstimpfung erhalten, 63,4 Prozent die Zweitimpfung (Stand: 2. Juli). Zur besseren Erklärung greift Rothe zu einer Analogie: „Mit Meldungen wie ,40 Prozent aller neuen Corona-Toten war geimpft‘ verhält es sich ähnlich wie mit ,70 Prozent aller Verkehrstoten war angeschnallt‘“, schreibt er auf Twitter.
So führt Rothe aus, wie er zu seinem Vergleich kommt: In Großbritannien seien „fast alle Delta-Todesfälle in der Altersgruppe 50+“, In dieser Gruppe liegt die Impfquote bei 93 Prozent (Stand: Ende Juni). Auf die etwa sieben Prozent Ungeimpften 50+ entfielen demnach „fast 60 Prozent aller Todesfälle“, so Rothe weiter.
Für den Hintergrund: Die Gesundheitsbehörde Public Health England hatte zwischen dem 1. Februar und dem 21. Juni 2021 117 Todesfälle registriert und diese auf eine Infektion mit der Delta-Variante zurückgeführt; 109 waren älter als 50 Jahre alt, acht jünger. 50 über 50-Jährige hatten bereits zwei Impfungen gegen das Coronavirus erhalten (42 Prozent), 38 keine Impfung. Von den acht Toten der Unter-50-Jährigen waren sechs ungeimpft, zwei hatten die erste Impfdosis erhalten.
Dass mehr Menschen doppelt geimpft sind und „trotzdem“ sterben, scheint zunächst paradox, ist es aber nicht. Das liege an zwei Gründen, erklären auch Statistiker wie David Spiegelhalter und Anthony Masters im Guardian.
Zum einen bietet eine Impfung zwar einen Schutz vor schweren Verläufen, aber eben nicht zu 100 Prozent. Spiegelhalter und Masters gehen in ihren Ausführungen – ohne konkret den Impfstoff zu nennen – von einer Wirksamkeit von 94, bzw. 95 Prozent aus. Das bedeutet, dass je mehr Menschen geimpft sind, auch mehr Geimpfte unter den Corona-Toten zu finden sein werden.
Zum anderen wird ja mehr geimpft vor allem bei den Jungen, deren Risiko, einen schweren oder gar tödlichen Verlauf zu erleiden, schon vor der Impfung geringer war als bei den Älteren oder Risikopatienten. Nach der Impfung sinkt ihr Anteil in der Statistik der schweren und tödlichen Verläufe also weiter.
Dadurch wird der Anteil der Risikopatienten und Bevölkerungsgruppe 85+, deren Risiko für einen schweren bis tödlichen Verlauf ohnehin höher ist, also steigen. Zumal die Impfquote gerade in dieser Gruppe besonders hoch ist, weil sie eben zur Risikogruppe gehören aufgrund ihres Alters oder ihrer Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs, Immunschwächen oder einer Organtransplantation.
Die Wahrscheinlichkeit dieser Gruppe bei einer Infektion einen schweren oder tödlichen Verlauf zu erleiden, ist also sowieso um ein vielfaches höher. „Das bedeutet, dass ein vollständig geimpfter 80-Jähriger im Wesentlichen das Risiko eines Ungeimpften von etwa 50 auf sich nimmt – viel weniger, aber immer noch nicht nichts, und so ist mit einigen Todesfällen zu rechnen“, erklären Spiegelhalter und Masters zur Statistik weiter.
Das mag mit ein Grund dafür sein, warum der neue britische Gesundheitsminister Sajid Javid die für England geplanten Lockerungen trotz steigender Corona-Zahlen verteidigt und an die Eigenverantwortung der Bürger appelliert hat. Das Land könne dadurch nicht nur „freier, sondern auch gesünder werden“, schrieb Javid in einem Gastbeitrag für die Mail on sunday. Er spielte damit etwa auf die Belastung der psychischen Gesundheit vieler Menschen an. Die Welle scheint tatsächlich deutlich schwächer zu verlaufen. Die Zahl derwegen Corona ins Krankenhaus eingelieferten Menschen ist in Großbritannien noch deutlich entfernt von der im Januar: Waren es am 12. Januar zu Höchstzeiten 4579 Patienten, waren es am 2. Juli 358.
Angesichts dieser Entwicklung ist also davon auszugehen, dass man in Zukunft auch in Deutschland mit ähnlichen Quoten doppelt Geimpfter unter den Corona-Todesfällen rechnen muss. Der Chemiker und Wissenschaftsjournalist Lars Fischer twitterte bereits: „So lange wir also hohe Infektionszahlen haben, wird ein immer höherer Anteil der Toten doppelt geimpft sein. Einfach weil diejenigen, die das überwältigend höhere Sterberisiko haben, fast alle doppelt geimpft sind und die Impfung nicht perfekt schützt.“
https://www.welt.de/wissenscha…oppelt-geimpft-waren.html